STARKE MÜDE FRAUEN

Als Kind, kurz bevor mein Vater meine Familie verliess, ich war ca. 11, 12 Jahre alt, sass ich im Badezimmer und weinte. Draussen hörte ich meinen Vater zu meiner Mutter sagen: Ach, Lille (wie er mich damals nannte), da brauchen wir uns keine Sorgen machen, die packt das schon.

Scheinbar unbemerkt, wurde dieser Satz, der meine Mutter schon ihr Leben lang begleitete an mich weiter gereicht. Lia, die schafft das schon. Und tatsächlich habe ich es immer gepackt. Meistens alleine.

Ich habe mich durch die dunkelste Zeiten der Depression geschleppt, mit Schreiben und Malen mich selbst therapiert, ich habe mich alleine auf die Gymnasiumprüfung vorbereitet und mich später an allen Kunstschulen beworben, um überall angenommen zu werden. Ich habe als Zeichenlehrerin an einer Kantonsschule unterrichtet, ohne Diplom und bin nachher in die Kunsttherapie eingestiegen, ohne Ausbildung.

Vor sechs Jahren hat ein Schamane mitten in einer Ayahuascazeremonie zu mir gesagt; Lucie (so nannte er mich damals), ich bin müde, du übernimmst.

Ich bin alleine als Frau in Länder gereist, in der man als Frau, nie sicher sein kann. Ich hatte immer wieder Einbrüche und bin immer wieder aufgestanden und ich war in Liebesbeziehungen, die, wenn ich heute daran denke, mir einfach nur schlecht wird.

Ich habe mich immer wieder und weiter befreit, war in vielen Therapien, habe unterschiedliche Seminare, Ausbildungen, Beratungen und Pflanzen ausprobiert und immer wieder auch meine ganze Familie mitgestützt und auch Lösungen für meine Männer gesucht (sehr wahrscheinlich nur aus dem egoistischen Grund, damit sie nachher Mann für mich sein können.) Klappt nicht Mädels und lohnt sich nicht, diese Verantwortung zu übernehmen.

Heute an einem Seminarwochenende wurde mir rückgemeldet, dass ich immer so stark, präsent und sicher wirke. Ich habe mich sehr darüber gefreut, bin dann nach Hause gegangen und habe eine Stunde lang ausgiebig geweint.

Ich habe an all das gedacht, was ich geschafft habe, voller Stolz und ehrlichem Staunen und dann wurde ich von einer grossen Trauer und einem tiefen Schmerz besucht, über all die Verluste, über die Kämpfe, über die Herausforderungen, Hindernisse, über all das, was ich alleine schon geschafft habe.

Ein bisschen Wut mischte sich ein über die Abwesenheit meines Vaters und der Männer die folgten. Ich weiss, dass ich vieles schaffen kann. Ich habe keine Angst davor, alleine durch die Dunkelheit zu gehen.

Und ich weiss, dass ich nicht alleine gehe. Ich sehe und spüre viele Frauen an meiner Seite. Frauen, die alleine ihre Kinder grossziehen. Die sich aus Beziehungen befreien, die von Missbrauch geprägt sind, sehr subtil manchmal, nicht offensichtlich laut.

Ich weiss um Frauen, die bleiben können, im Schmerz und da sind, auch wenn es schwierig wird und den Mund aufmachen, wenn es zuviel wird und sich abgrenzen wissen ohne sich aus dem Staub zu machen. Ich weiss um die Kraft der Frauen, um meine Kraft und um die meiner Schwestern, Ahninnen und Begleiterinnen.

Und ich weiss auch um die Müdigkeit, um den leisen Schmerz und um die stille Sehnsucht, die uns manchmal heimsucht. Die mich heute heimgesucht hat.

Die Sehnsucht, dass jemand da ist, jemand, der sagt; ich weiss, dass du alles alleine schaffen kannst. Aber du musst es nicht alleine schaffen. Weil ich da bin.

Diese Worte sind von mir für mich selbst und von mir für dich, starke, müde Frau; Ich bin da. Denn ich weiss, um die Müdigkeit, um den leisen Schmerz und um die stille Sehnsucht, die uns manchmal heimsucht.

Die mich heute heimgesucht hat, plötzlich, unverhofft.

Und jetzt, erschöpft und erschlagen liege ich in meinem Bett und ich weiss auch um die Schönheit von diesem Schmerz, der Trauer und der Sehnsucht: Sie macht uns weich, demütig, feinfühlig und offen. Und in dieser weichen Offenheit sage ich gute Nacht. Alles Liebe zu euch!

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