Versuche nicht die grosse Masse zu bekehren, oder von ihr verstanden zu werden – die meisten Menschen sind so mit dem System, in dem sie leben identifiziert, dass sie es bis zum Tod verteidigen würden – auch wenn es sie krank macht.
In dieser schlaflosen Nacht erinnere ich mich an diese Worte von meinem peruanischen Schamanen-Freund und gleichzeitig an meinen Vater – als ein Beispiel unter vielen – der obwohl er todunglücklich ist mit seinem 7-Tage-8-Stunden-Job mich immer wieder zu mehr Anpassung und zur Eingliederung in unser System mahnt – in dieses System, das ihn regelrecht krank macht, mich aber gleichzeitig Teil davon wissen will.
Nur weil etwas ist, wie es ist und scheinbar immer war, muss es nicht automatisch gut sein.
In diesen Tagen erlebe ich den Widerstand neu. Mit einem Lächeln erinnere ich mich an meine Jugendzeit in der Punkerszene, damals, als ich mit Leopardenstrümpfen und Strapsen durch mein 800-Seelendorf spaziert bin und nicht selten als Schlampe betitelt wurde – und das obwohl ich seit 6 Jahren mit ein und demselben Mann in einer Beziehung war, diesem Mann, dessen Irokese weit in den Himmel ragte.
Heute noch spüre die Energie des Widerstandes, immer noch bin ich dagegen, lächelt es in mir – und ich kann nichts dagegen tun.
Es ist menschenfeindlich und unnatürlich, sagt dieser widerspenstige Teil in mir, es ist menschenfeindlich aufstehen zu müssen, dann, wenn der Körper schlafen will, 8.5 Stunden arbeiten zu müssen, meist in einem Bereich, der nichts mit unserer Leidenschaft zu tun hat, schnell zu essen und überhaupt alles schnell machen zu müssen und dann zwei Tage pro Woche und zwei Stunden pro Tag Zeit zu haben, für uns selbst und für unsere Liebsten. Und dabei doch immer und überall erreichbar zu sein.
Wie lässt sich so etwas rechtfertigen, mit welchen Argumenten verteidigen?, frage ich mich.
In Indien habe ich eine Frau kennen gelernt, die seit 20 Jahren durch die Welt reist. Zusammen haben wir bei Mönchen in Sri Lanka gewohnt. Obwohl wir nicht im klassischen Sinn gearbeitet haben, waren wir nicht faul. Wir haben gekocht, unsere Wäsche gewaschen, gelesen, geschrieben, gemalt, gelacht und geredet, unsere Webseite neu gebastelt. Wir sind dem natürlichen Fluss des Lebens gefolgt, unserem ganz eigenen, inneren Rhythmus.
Wo ist das natürliche, das eigene hier bei uns?, frage ich mich. Und versuche es zu finden, zu kultivieren, ihm Raum und Beachtung und Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Es zu pflegen und zu hegen, als Akt der Selbstliebe und als Liebe zum Leben.
Versuche nicht von der grossen Masse verstanden zu werden, sagte Jose Luis in dieser sternenklaren Nacht in der Wüste Mexicos und „seine“ Heilpflanzen haben ergänzt: kämpfe nie gegen etwas, weil du ihm so deine Aufmerksamkeit schenkst, sondern investiere deine Energie immer in das Neue, das du dir herbeisehnst.
Vor Indien habe ich krampfhaft versucht mich anzupassen, ich hatte den starken Glauben, es doch auch so machen zu müssen und zu wollen, wie die vielen. Dieser blinde Glaube hat mir vielleicht der Monsun abgewaschen und nein, ich will nicht mehr so leben, wie alle glauben leben zu müssen – meist ohne es zu wollen.
Ich habe gerne Zeit für die Menschen. Und für mich selbst. Und ich will mich nicht länger dafür entschuldigen müssen. Ich glaube, es ist unser Geburtsrecht, dein und meines. Das zu leben, was durch uns gelebt werden will und nicht das, was eine Gesellschaft für alle als Einheitsbrei irgendwann einmal entschieden hat.
Die Zeiten ändern sich, langsam und doch dramatisch fallen immer mehr aus dem System. Oder suchen ihre eigenen Wege, in und gleichzeitig ausserhalb der grossen Masse.
So wie ich. Nicht dagegen – naja, gegen diesen widerspestigen Punkeranteil in mir kann ich wirklich nichts machen – aber vor allem dafür, für ein Leben, in mehr Freiheit, die Freiheit mehr zu fühlen und weniger zu denken, nichts tun zu dürfen und all das, was das Leben durch uns leben will, natürlich, frei, bunt, wild und sanft.
(Und ja, ich weiss, Freiheit hat nichts mit äusseren Umständen zu tun. Auch das stimmt, gleichzeitig. In diesen zähen Nächten vor dem Vollmond atme ich mich durch die Widerstände in meinem Körper und Denken und erfahre immer wieder die Weite, in der alles seinen Platz und seine Berechtigung hat. Auch der Widerstand.)
Text: Alterszentrum Hottingen / 2018
Bild: Oaxaca, Mexico / 2014