Ich bin dagegen

Ich bin seit einem guten Jahr wieder in der Schweiz und wieder machen sich die gleichen Widerstände in mir bemerkbar. Ich will mich nicht beklagen – naja, ein bisschen vielleicht doch 😉

Ich weiss, wir können dankbar sein. Für so vieles. Für das Dach über unserem Kopf, für die Sauberkeit, für unser Gesundheitssystem (obwohl ich Leute kenne, die sich keinen Arzt leisten können, weil sie die Franchise auf 2500.- haben und wenn die Franchise tiefer ist, können Sie sich den monatlichen Beitrag nich leisten. Ja, bei uns in der Schweiz).

Ich war in armen Regionen auf dieser Welt; in Südamerika, Mexiko und auch in Indien. Ich weiss, wir können dankbar sein, für so vieles. Aber ich glaube auch, dass diese Dankbarkeit, die wir fast schon haben müssen (man kann es manchmal auch schlechtes Gewissen nennen, weil es uns zu gut geht) uns davon abhält, mehr zu wollen, über unsere Grenzen zu gehen, uns davon abhält zu träumen.

Zu viel Dankbarkeit, unterdrückt unsere Wut, die auch Kraft ist, für das einzustehen, was wir fühlen und wollen und uns (für uns und für die Welt) wünschen.

Nur weil es anderen auf der Welt schlechter geht als uns, heisst es nicht, dass wir mit allem, was wir haben und mit dem, wie wir leben zufrieden sein müssen. Und nur weil wir vielleicht keinen konkreten Plan oder Konzept haben, wie es besser sein könnte, heisst es nicht, dass wir uns mit dem, was ist immer nur zufrieden geben sollten.

Ich war in einer sehr armen Region in Indien. Eine Frau, abgemagert bis auf die Knochen, sass jeden Tag vor ihrer Hütte. Wenn ich vorbei lief hat sie die Hände vor die Brust zum Gruss gelegt und mich lächelnd angeschaut. Namaste. Nie hat sie mich um Geld angebettelt. Und obwohl sie bettelarm war, habe ich etwas in ihren Augen gesehen, dass die Gesichter der Schweiz viel zu oft vermissen lassen. Liebe. Zufriedenheit. Güte. Nur weil wir hier so viel haben, heisst es nicht, dass wir alle glücklich sind.

Die Pharmaindustrie boomt, Menschen nehmen Psychopharmaka als wären es Bonbons. Alkoholismus, Drogen sind weit verbreitet. Und auch hier greift die Gesundheitsindustrie, die mit teuren Medikamenten helfen soll. Ayahuasca, das in Südamerika in speziellen Kliniken gegen Drogensucht sehr erfolgreich eingesetzt wird, gilt hier als verboten. Es bringt keinen Gewinn.

Menschen, die keinen Gewinn bringen gehen unter. Alles wird optimiert und vermarktet. Wer sich eingliedert, wer arbeitet, fünf Tage die Woche, kann hier gut leben. Aber was ist mit den Menschen, die nicht fünf Tage arbeiten wollen, für Geld, dass sie für Haus und für ein paar Wochen Ferien im Jahr ausgeben, weil für etwas anderes keine Zeit und keine Energie bleibt? Was ist mit den Menschen, die noch träumen von einem selbstbestimmten, unabhängigen Leben? Wo ist ihr Platz?

Wie viel kannst du verdrängen, ohne dass du dich vergisst? Spürst du dich, das was schmerzt und die Freude, die dich über den grauen Alltag hinaus tragen kann? Träumst du noch, oder schläfst du einfach die ganze Zeit. Bis es vorbei ist. Schneller als erwartet.

Wer von euch kann wütend sein? Wir waren so lange angenehm ruhig und einfach zu händigen, domestiziert und angepasst.

Heute fällt es mir schwer dankbar zu sein. Alle sollen wir immer dankbar sein. Die Ausländer, die für 17.- die Stunde hier arbeiten, obwohl kein Schweizer eine solche Arbeit je machen würde. Sei dankbar! Dankbar für die Wohnungen, die so teuer sind, dass manche aus der Stadt wegziehen müssen.

Ja, ich bin auch dankbar, dankbar für den Wald, der mich zur Stille lädt. Für manch guten Freund, der mir die Hand hält. Für meinen Freund, der das Stück Weg im Moment mit mir geht, auch wenn er in den acht, neun Monaten graue Haare bekommen hat.

Ich bin dankbar, wenn ich meine eigenen Sessions machen kann, Karten legen, Yoga unterrichten, mich einem Gegenüber öffnen und dem, was sich zeigen will Platz geben darf. Dann wird etwas in mir still.

Ich bin auch dankbar für meine Wohnung und auch für meinen Job.

Aber ich bin auch dagegen, gegen so einiges, dass ich hier beobachte, spüre, fühle, erlebe.

So ist das mit mir. Nicht immer einfach. Auch für mich nicht. Aber trotzdem bin ich dankbar für meinen Weg, der nicht immer nur geradlinig war, selten einfach angepasst und konform, aber bunt und wild und lebendig. Und anstrengend.

Heute bin ich müde.

Gute Nacht, liebe Piraten und Piratinnen.

 

pirat

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