Unser menschliches Dasein scheint immerzu dahin zu streben, etwas zu werden, um dann jemand zu sein; gut, schön, erfolgreich, erleuchtet, Arzt, Chefin von weissgottwas, Therapeutin, Spiritual Leader.
Kann dieses Streben etwas anderem entspringen als dem Gefühl der Wertlosigkeit, des (noch) nicht genügens, eines inneren, oft versteckten (Selbst-)Empfindens der Unvollkommenheit, das manchmal auch in Selbsthass umschlagen kann?
Es ist gewiss ein menschliches Bedürfnis zu lernen, sich zu entwickeln, nach „Höherem“ zu streben. Aber dieser natürliche Drang, dem auch etwas kindlich-neugieriges zugeschrieben werden könnte, wird schon früh genährt und gepusht in eine Richtung der Selbstoptimierung, die vor keinem menschlichen Aspekt Halt macht.
In der Schule sollen wir besser sein als alle anderen, im Beruf erfolgreich, gesundheitlich fit und schlank und schön und spirituell erleuchtet, erhaben, erwacht.
Business Coaching verspricht Erfolgskarriere; Spiritual Coaches reden von der Möglichkeit alles zu heilen und zu manifestieren, was wünschenswert ist.
Alle diese Strömungen, materiell oder spirituell, weisen in die Zukunft und sehr versteckt und vielleicht unbewusst darauf hin, dass so, wie das Leben und der Mensch jetzt gerade ist, (noch) nicht gut genug sind.
Und wir Menschen, mit unserem menschlichen Gefühl der Wertlosigkeit, das nie erwünscht und dadurch auch nicht gefühlt und erlöst wurde, wir versprechen uns selbst, „es“ nun endlich zu „schaffen“. Alle unsere dunklen Seiten zu erleuchten, unsere Defizite in Erfolg umzuwandeln. Und uns dadurch endlich wertvoll zu fühlen.
Gefühle wie Scham, Unsicherheit, Wertlosigkeit, Selbstablehnung … entstehen oft bereits in der Kindheit und bekommen auch im Erwachsenenalter nie den Raum und die Aufmerksamkeit, den sie – wie jedes Gefühl, das erscheint und wieder geht, wenn es gefühlt wird – brauchen würden, um zu heilen.
Wir wenden uns ab und dem zu, was uns eine Perfektion verspricht – eine Perfektion, die aber immer nur unvollkommen sein kann, weil sie „niedere“ Gefühle, wie Trauer, oder Hass ausschliesst, weg haben, transformieren will.
Aus Angst vor der Konfrontation, aus Angst vor dem Fühlen (und zuerst einmal dem ehrlichen Zugeständnis) ALLER Gefühle drehen wir uns unser ganzes Leben lang ein bisschen weg von uns selbst. Wir rennen und ver-suchen; Ablenkung, Heilung, Optimierung, Erfolg, Erleuchtung. Wir tun so als ob.
Auf unsere (kindlichen) Wunden und menschlichen Gefühle pflastern wir Coaching, Ablenkung, Karriere, Licht&Liebe, positives Denken und jede Menge Yoga.
Was mit der „Wunde“ und den ungefühlten Gefühlen passiert? Sie sind immer noch da, ob wir wollen oder nicht. Und sie suchen sich ihre eigenen Wege um Aufmerksamkeit zu erlangen. Manchmal durch körperliche Symptome, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Panik Attacken. Für die es wiederum tausende von Heilmethoden gibt.
Die nichts helfen, nie längerfristig, nie wirklich.
Wir drehen uns im Kreis, bis zu dem Punkt, an dem wir stehen bleiben und uns umdrehen, uns selbst, der Scham, der Angst, der Trauer, der Wertlosigkeit ins Gesicht sehen und fühlen. Auch wenn wir vielleicht glauben daran sterben zu müssen.
Das Göttliche wohnt nicht weit weg hinter den Wolken; hinter Angst und Trauer und dem Gefühl der Ungenügsamkeit warten wir geduldig darauf von uns selbst entdeckt zu werden.
(Das mit „Gott“ bleibt vorerst Gerücht – auch ich übe mich immer noch und immer wieder im Fühlen. Etwas, das wir verlernt oder nie gelernt haben. Wir denken Gefühle. Unterdrücken Gefühle. Wir transformieren Gefühle. Selten aber fühlen wir sie wirklich. Manchmal hilft Rückzug, manchmal brauchen wir Begleitung, helfende Hände, offene Ohren und weite Herzen. Yoga kann helfen, Pflanzenmedizin, Körper- oder Gesprächstherapie. Wenn sie uns dabei unterstützen uns umzudrehen und näher zu uns selbst zu rücken und nicht um etwas, das schon lange da ist weg- oder anders haben zu wollen.)
Text: Januar 2020
Bild: Oktober 2018 – Ich mit Selbstoptimierungsmaske 😉
