Abschied

Ich bin eine langsame Reisende. Ich bleibe gerne länger als nur ein, zwei Tage an einem Ort. Ich lerne gerne die Versteckte einer Stadt, die Eigenheiten eines Dorfes kennen und die Menschen, die tagtäglich dort leben. Ich gehe gerne mehrmals ins gleiche Restaurant, wenn es wirklich gut ist und ich mag es, wenn mich die Angestellten freudig begrüssen und manchmal nach meinem Namen fragen, um mich nicht länger mit „Madame“ anzusprechen.
 
Jeder Ort birgt seine Eigenheiten und auch seine kleinen und grossen Aufgaben oder Herausforderungen. Wenn wir uns einlassen. Ich mag es, langsam zu reisen, den Ort und mich selbst dadurch tiefer zu erforschen. Bis der Moment kommt, an dem es mich weiterzieht. Dann, wenn „alles“ gemacht, gesehen, erprobt, erforscht worden ist – für den Moment zumindest.
 
Ich bin nicht immer gut im Weitergehen. Entscheidungen zu treffen, kann mich nach wie vor fast um den Verstand bringen. Links oder rechts? Und Abschied zu nehmen von einem Ort und seinen Menschen macht mich immer noch traurig. Trotzdem gehe ich weiter. Das Reisen lehrt es mich. Mich zu verabschieden, loszulassen, mich zu entscheiden, etwas abzuschliessen und Neues anzufangen. In der alltäglichen Routine lehrt man das mehr schlecht als recht, man richtet sich ein, bleibt, hält fest. Ich bin nach wie vor richtig gut im Festhalten. Reisend lehre ich mir nun selbst auch das Weitergehen und das Loslassen.
 
Am Abend vor jeder Abreise packe ich meinen Rucksack, ich dusche, wasche meine Haare, rasiere meine Beine, zupfe meine Augenbrauen – falls der Spiegel dies zulässt. Ich verschliesse sorgfältig die Türe und verdunkle alle Fenster, ich zünde eine Kerze an und tanze nackt in meinem Zimmer. Ich schüttle alles ab, das mich noch am Weitergehen hindert, manchmal weine ich, oft muss ich lachen.
 
Dann lege mich auf`s Bett, ich werde still. Ich bedanke mich beim Ort, bei den Menschen, für alles; auch für die kleinen und grossen Herausforderungen. Ich entschuldige mich. Wenn es etwas zu entschuldigen gibt. Mein (Ab)werten, Beurteilen und Abwehren. Für alles, was meinen mind noch so herumtreibt und beschäftigt. Ich lasse alles los, was mich noch hält, alles, was ich noch festhalte. Am nächsten Morgen stehe auf, ich sage auf Wiedersehen und ich gehe weiter.
 
Auch der Neubeginn an einem fremden Ort gehört nicht zu meinen Stärken. Nichts ist so, wie ich es will, zu Beginn, nach einer langen, oft ermüdenden und turbulenten Bus- oder Zugfahrt. Immer ist es zu laut. Das weiss ich nun, nach all meinen Reisen. Also gönn ich mir das beste Essen, plus Dessert. Ich gehe in mein neues Zuhause auf Zeit, ich zünde meine Kerze an, gehe duschen, lege mich auf`s Bett und heisse Willkommen, was auch immer kommen mag, an diesem mir noch unbekannten Ort.
 
Das Reisen lehrt mich das Abschiednehmen. Das mich Verabschieden und das Loslassen. Und das Neuanfangen. Immer wieder.
 
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Eine Freundin ist gestorben. Ich habe sie nur zweimal in meinem Leben getroffen, trotzdem waren wir uns nah. Ich habe mich nicht wirklich verabschiedet. Weil ich nicht damit gerechnet habe, mit ihrem Tod. Ich habe nicht mit dem Tod gerechnet. Wir rechnen oft nicht mit dem Tod. Wir lehren das Abschiednehmen nicht. Das Loslassen, das Verzeihen, das Lösen unserer Ver-Bindungen. Wir schliessen keine Kreise. Wir halten fest. Wir bleiben. Und sagen trotzdem viel zu selten, was wir meinen und tatsächlich fühlen.
 
Wir lernen das Abschiednehmen und das Loslassen nicht.
Und vielleicht wagen wir deshalb so selten wirklich einen Neuanfang.
 
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Text: Chennai, Indien / März 2018
Bild: Chennai, Indien / März 2018
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